Experimentelle Stilrichtung der Fotografie: "Das neue Sehen"
Zwischen Vogelsicht, Close-up und unwirklichen Perspektiven: In den 1920er Jahren bricht die europäische Avantgarde-Fotografie endgültig mit den Traditionen der konventionellen Fotografie und sprengt festgefahrene Strukturen sowohl in der Bildkomposition als auch in den Köpfen des Publikums. Das "Neue Sehen" postuliert eine dynamische Fotografie, die als ein Spiegelbild der Zeit den Fortschrittsoptimismus und die Technikeuphorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts abbilden soll. Zeitgleich streben die Künstler auch eine Emanzipation der Kunstfotografie selbst an und fordern, dass diese nicht länger von Meinungen der Kunstkritiker, sondern von ihren eigenen bestimmt werden solle.
Wegbereiter des "Neuen Sehens": Die 'Neue Sachlichkeit'
Der Wandel in der fotografischen Kunst, der letzten Endes in die experimentelle Stilrichtung des Neuen Sehens mündet, setzt bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein: Die Künstlerinnen und Künstler arbeiten nicht länger im Stile des sogenannten "Piktorismus" nach dem Vorbild der Malerei, nach dem auch fotografierte Bilder symbolischen Gehalt besitzen sollten. Stattdessen kommt mit der sich rasch entwickelnden Technik und dem Gedankengut der 'Neuen Sachlichkeit' zunehmend die Vorstellung von einer direkten Fotografie, der sogenannten "Straight Photography", auf. Diese setzt auf eine exakte Ausleuchtung, Schärfe, realistische Perspektiven und nicht manipulierte Positive.
Anfang der 20er Jahre jedoch erscheinen den Künstlerinnen und Künstlern diese sehr nüchternen Darstellungen der Wirklichkeit bereits als substanzlos und fad. In den, in der Regel links orientierten, avantgardistischen Lagern wächst das Verlangen, die gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse, die zu dieser Zeit noch bejubelt und forciert werden, ästhetisch dynamisch abbilden zu können. Das "Neue Sehen" ist Resulat dieser Bestrebungen.
Abbild der Städtischen Kultur: Das "Neue Sehen"
Das "Neue Sehen", das sich in großer Nähe zum Konstruktivismus und zur Schule des "Bauhaus" entwickelt, löst die tradierten Normen von Komposition, Bildsprache und Beleuchtung bzw. Belichtung weitestgehend auf und experimentiert mit neuen Perspektiven, ungewohnten und zum Teil bewusst unausgewogenen Kompositionen und konventionell als unästhetisch empfundenen Belichtungsmethoden. Auf diese Weise soll die Fotografie in die Lage versetzt werden, den gesellschaftlichen und technischen Wandel und Fortschritt nicht nur zu dokumentieren, sondern ihn ästhetisch ab- und nachzubilden. Bekannt sind vor allem Künstler wie László Moholy-Nagy, seines Zeichens Lehrender am 'Bauhaus' von 1923 bis 1928, und der russische Konstruktivist Alexander Rodtschenko.
Neben dem Bruch mit den Normen verfolgt das "Neue Sehen" auch einen dezidiert didaktischen Ansatz, indem der Blick des Publikums durch den experimentellen Charakter der Werke gleichsam "entnormt" wird. Erklärtes Ziel ist es, "das menschliche Auge mit Hilfe der mechanischen Optik zu schulen'" und es dadurch aufnahmefähig für neue Abbildungsweisen zu machen. Hierfür eignen sich am besten bereits bekannte Sujets, die durch unbekannte Darstellungsweisen wie etwa doppelte Belichtung oder auch mithilfe sogenannter "Fotogramme" (d.i. die direkte Belichtung eines Films ohne die Kamera als Medium) jedoch verfremdet erscheinen. Bei den "neuen" Perspektiven sind vor allem extreme Auf- oder Untersichten beliebt, da diese das Dargestellte in einem vollkommen neuen Licht erscheinen lassen und den Betrachtenden – im übertragenden Sinne – auch dazu zwingen, die eigene Perspektive zu überdenken.
Darüber hinaus zeichnet sich das "Neue Sehen" durch das programmatische Fehlen von kompositorischen Regelungen aus: Die Künstler setzen auf kreative und spontane Impulse, die das ursprünglich als reproduzierend gedachte Medium der Fotografie immer mehr zu einem produzierenden Medium machen, das durch Experiment und Neuinterpretation eine eigene künstlerische Wirklichkeit erschafft. In diesem Zusammenhang schreibt Alexander Rodtschenko im Jahre 1935, die Fotografie verfüge über alle notwendigen Rechte und Vorzüge, die Kunstform unserer Zeit zu sein.
Kritik des Experiments: Die Schwächen des "Neuen Sehens"
Die Kritik an der experimentellen Stilrichtung kommt letzten Endes genau aus dem Lager, wo das "Neue Sehen" seinen Anfang genommen hatte: aus der 'Neuen Sachlichkeit'. Die Anhänger der "Straight Photography" prangern nicht nur die offensichtliche Unfähigkeit zu einem einheitlichen Stil aufgrund der programmatischen Regelfreiheit der Bewegung an, sondern werfen den jeweiligen Künstlern auch einen gewissen laienhaften Umgang mit dem Medium sowie bisweilen mangelnde technische Ausbildung vor.
Als Reaktion auf die kritischen Stimmen werden am Bauhaus erstmals reine Fotografieklassen eingeführt. Diese haben zwar den von den Kritikern geforderten Wandel hin zur direkten Fotografie zur Folge, nivellieren jedoch auch weitestgehend den kreativen und experimentellen Ansatz der Stilrichtung. Mit dem Aufstieg der totalitären Regimes in Deutschland und der (damaligen) UdSSR während der 1930er Jahre verschwindet der experimentelle Ansatz dann gänzlich aus der ästhetischen Fotografie und man kehrt zurück zu realistischen Arbeiten, die sich nach einem strengen akademischen Regelwerk richten.