Die Neuen Wilden: Expressiv-naive Kindergartenkunst
Als der Museumsdirektor Wolfgang Becker zu Beginn der 80er Jahre über die farbenfroh-naive, anti-intellektuellen Kunst der Neuen Wilden spricht, ergeht es ihm wie rund 80 Jahre zuvor dem Pariser Kunstkritiker Louis Vauxelles, der anlässlich einer Ausstellung im Salon d'Automne ironisch bemerkt: "Sieh da, Donatello umgeben von wilden Bestien!" Sowohl Vauxcelles als später auch Becker meinen ihre Wortschöpfungen durchaus abwertend – und geben dennoch zwei jungen Bewegungen ihren Namen: Während Vauxcelles 1905 den Ausdruck "Fauves" (dt. 'die Wilden') für die französischen Expressionisten prägt, gibt Becker den jungen deutschen und österreichischen Künstlern einen Namen: Die Neuen Wilden sind geboren.
Die Neuen Wilden in den Spuren der (alten) Wilden
Die Ähnlichkeit der Bezeichnung kommt nicht von ungefähr, denn obgleich den Fauvismus und die Neuen Wilden beinahe ein ganzes Jahrhundert trennt, haben sie vieles gemeinsam: Beide Gruppierungen sind heterogen, arbeiten ohne explizites Programm und setzen auf naive, extrem bunte Farbigkeit. Außerdem entstehen beide Stilrichtungen gleichsam in Rebellion gegen ein akademisches Kunstverständnis, dass zu Zeiten der Fauvisten durch die Pariser "Académie des Beaux-Arts" repräsentiert wird: Die wohlstandbedingte Apathie der künstlerischen Szene der späten 70er Jahre führt zunehmend zu Repressionen gegen Künstler und Künstlerinnen, die so gezwungen werden sollen, ihre Arbeiten dem "intellektuellen" Stil anzupassen. Die wichtigste Gemeinsamkeit liegt jedoch in den künstlerischen Mitteln, aufgrund derer die Kunst der Neuen Wilden auch häufig als neoexpressionistischer Stil bezeichnet wird.
Die Neuen bzw. Jungen Wilden stehen in der Tradition von Dadaismus, Fluxus und der italienischen Transavangarde und lehnen den konventionellen Kunstbegriff kategorisch ab. Parallel zu den Umwälzungserscheinungen in Deutschland und Österreich, welche sich in Berlin, Hamburg, Köln und Wien zentrieren, formiert sich auch in den USA eine neoexpressionistische Gruppierung, die als "New Image Painting" bzw. "Wild Style" bezeichnet wird. Etwa zeitgleich entsteht in Frankreich die "Figuration Libre". Heute wird die Bezeichnung Neue Wilde häufig nicht auf die Kunst bezogen, die in dieser Bewegung entstanden ist, sondern vielmehr auf die Künstler und Künstlerinnen selbst, die in kulturellen Zentren der Zeit (allen voran Berlin) wilde Exzesse feierten und berühmt waren für ihre sexuellen Eskapaden.
Die Expressivität der Neuen Wilden: „Heftige“ Malerei
Um eine klare Abgrenzung der Neuen Wilden von ihrer jeweiligen Kunst zu schaffen, entsteht Ende der 80er Jahre eine neue Bezeichnung: Die Kreationen der Neuen Wilden werden fortan als "Heftige Malerei" bezeichnet. Genau wie die Fauves setzen sie vor allem auf eines: Auf Farbe – und zwar auf reine Farbe. Wie 80 Jahre zuvor die "Académie des Beaux-Arts", sehen sich nun die reaktionären Kunst- und Kulturkritiker in Österreich und Deutschland mit zwar durchaus traditionellen Motiven wie Landschaften, Stillleben und Portraits konfrontiert, die jedoch gänzlich antinaturalistisch gestaltet sind: Verschwimmende Konturen lassen Vorder- und Hintergrund ineinander übergehen und bilden so die hauptsächlichen Gestaltungsmerkmale für die gezielte Formlosigkeit dieser "wilden" Kunst.
Die extrem großformatigen Bilder sind häufig durch Neonfarben ergänzt und mit Graffiti-Elementen durchsetzt, die sich dem schwungvollen Pinselstrich angleichen und einen Kontrast zur betont malerischen Gestaltung bilden. Genau wie im Expressionismus werden die Kunstwerke hier zum subjektiven Ausdruck der Emotionen, Ängste und Sehnsüchte des Künstlers. Trotz der bisweilen dunklen Themen versteht die Heftige Malerei sich als betont lebensbejahende und naiv-fröhliche Kunst, die mit ihren Bildern erzählen, erfreuen und einen künstlerischen Raum schaffen will, der "mehr nach Kindergarten als nach ästhetischem Laboratorium schmeckt". Bedeutende Vertreter der Neuen Wilden sind u.a. Werner Büttner, Albert Oehlen und Martin Kippenberger in Hamburg, die sich dezidiert sozialen Themen zuwenden, und die Kölner Gruppe "Mühlheimer Freiheit", die sich selbst nach ihrem Atelier benannte. In beiden Gruppierungen entstehen viele Werke in gemeinschaftlicher Arbeit.
HEN-Magonza - Helmut Middendorf, Elektrische Nacht – flickr.com
Das bekannteste Mitglied des Berliner Kreises ist der Maler Wolfgang Cilarz, der für seinen freizügig-erotischen Performances und die Beschäftigung mit der Verbindung von Sexualität und Kunst berühmt geworden ist. Ein weiterer Vertreter der Berliner Gruppierung ist Rainer Fetting, der für seine Portraits und Landschaftsbilder, beispielsweise die "Nordische Landschaft 1" bekannt geworden ist (siehe Bild oben).
Ein weiteres Mitglied der Berliner Gruppe fällt durch besondere Expressivität auf: Helmut Middendorf erschafft Kunstwerke von unglaublicher farbiger Dynamik, so etwa in dem Bild "Elektrische Nacht" von 1979 (siehe Bild). Aufgrund ihrer unkonventionellen, freidenkerischen Art, werden die Neuen Wilden häufig in Verbindung zu Protestbewegungen wie Punk oder New Wave in Verbindung gebracht.