Fotografische Stilrichtungen im Vergleich
Kunst oder Massenmedium? Fotografieren kann jeder – doch nicht jeder wird zum Künstler, indem er den Auslöser betätigt. Die Frage nach dem Kunstcharakter der Fotografie stellt sich seit der Stunde ihrer Geburt im Jahre 1839, als der französische Maler Louis Jacques Mandé Daguerre das Verfahren der "Daguerreotypie" vorstellt. Seither ist die Fotografie ein allgegenwärtiges Medium, das nicht nur unseren Alltag prägt, sondern auch unser Verhältnis zur Wirklichkeit verändert hat. Als erstes Museum überhaupt verfügt das 'Museum of Modern Art' in New York bereits seit seiner Eröffnung im Jahre 1929 über eine Ausstellungsabteilung für Fotografie. In den meisten europäischen Museen beginnt der Aufbau der entsprechenden Ausstellungsbereiche erst in den 1960er und 70er Jahren.
Die vollständige (akademische) Anerkennung der Fotografie als Form künstlerischen Ausdrucks erfolgt erst gute hundert Jahre nach ihrer Erfindung im Zuge der europäischen Avantgarde, welche programmatisch die Grenzen des traditionellen Kunstbegriffes sprengt. Analog zu den technischen Neuerungen entwickeln sich im Laufe der Zeit verschiedene fotografische Stilrichtungen, die die Einzigartigkeit des Mediums, die Aufnahme des Moments, auf jeweils unterschiedliche Arten nutzen.
„How charming it would be if it were possible to cause these natural images to imprint themselves durable and remain fixed upon the paper! And why should it not be possible?” (Henry Fox Talbot, Erfinder des Negativ-Positiv-Verfahrens)1
Ästhetizismus und künstlerischer Anspruch: Kunstfotografie
Nesster - "Dawn and Sunset" by H.P. Robinson, 1885 – flickr.com
Da die Fotografie von der ersten Stunde an mit der Debatte um Originalität, Werkcharakter und die künstlerische Autorenschaft konfrontiert ist, sind insbesondere die frühen Künstler darum bemüht, ihrer Arbeit Geltungsgleichheit mit der Bildenden Kunst zu verschaffen. Die (sich aus diesem Anspruch entwickelnde) sog. "Kunstfotografie" erreicht ihren Höhepunkt zwischen 1850 und 1870 in England, wo sie sich vornehmlich aus den Motiven speist, die auch die Malerei bearbeitet: Hier werden historische, mythologische und literarische Stoffe als Szenen im Atelier arrangiert und mittels Kulisse, Kostüm und Requisite nachgebildet.
Mit fortschreitender technischer Entwicklung ist es den Künstler auch möglich, ihre Arbeiten im Stil der Portraitmalerei zu retuschieren, indem sie sie kolorieren oder mittels Montagetechnik verfremden. Bekannt für ihre kunstfotografischen Werke sind u.a. der Brite Henry Peach Robinson (siehe Bild: „Dawn and Sunset“) und die US-amerikanische Fotografin Gertrude Käsebier.
In den Spuren der großen Maler: Pictoralismus
Pierre Tourigny - Evelyn Nesbit by Gertrude Käsebier, 1900 – flickr.com
In Folge des Anspruchs, ihrer Arbeit den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert zu verschaffen wie ihn die Bildende Kunst innehat, entwickelt sich aus der Kunstfotografie um 1900 der "Pictoralismus", der sich in erster Linie einem künstlerischen Ästhetizismus verpflichtet sieht. Die Pictoralisten, die nicht im Atelier, sondern im Freien arbeiten, gestalten ihre Aufnahmen nach dem Vorbild der Landschaftsmalerei und insbesondere des "Lichtspiels" der impressionistischen Malweise. Zum ästhetischen Anspruch des Pictoralismus gehört auch seine bewusste Abgrenzung von der Fotografie als "Massenmedium", wie es sich seit 1888 durch die Erfindung der "Kodak-Box" entwickelt.
Im Gegensatz zum sog. "Schnappschuss" betonen die Pictoralisten die individuelle Note durch Nachbearbeitung der Aufnahmen, wodurch unscharfe Konturen entstehen, die die Details "verwischen". Zu den bekanntesten Vertretern des Pictoralismus zählen neben der Kunstfotografin Gertrude Käsebier (siehe Bild: Evelyn Nesbit von Gertrude Käsebier) auch der US-Amerikaner Edward Streichen und der ebenfalls US-amerikanische Avantgarde-Künstler Alfred Stieglitz, welcher schließlich die Wende zur sog. "Straigth Photography" bringt.
Emanzipationsbewegung und Realitätsanspruch: Straight Photography
Die vollständige Emanzipation der Fotografie von der Malerei gelingt erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Medium immer mehr für sozialkritische Zwecke eingesetzt wird. So erscheinen bereits 1917 in einer Ausgabe von Alfred Stieglitz Zeitschrift "Camera Works" Aufnahmen des amerikanischen Fotografen Paul Strand, welcher sich insbesondere den Themen Kinderarbeit, Migration und Armut widmet. Aufgrund ihres politisch-sozialen Engagements sind Strands Aufnahmen nicht nachbearbeitet und polarisieren in erster Linie durch ihren eher dokumentarischen Charakter und formal strengen Aufbau.
Die Vertreter der Straight Photography, die häufig im Zusammenhang mit der 'Neuen Sachlichkeit' und dem 'Bauhaus' genannt wird, lehnen jede Manipulation oder Inszenierung ab und fordern neben Detailtreue und strenger Komposition vor allem Bildschärfe und klare Ausleuchtung. Im Jahre 1932 gründet sich mit der Gruppe "f/64" (benannt nach der kleinsten damals verfügbaren Objektivblende für Tiefenschärfe) eine Vereinigung von Künstlerinnen und Künstlern, die nach der Darstellung des Wesentlichen streben und deren Aufnahmen sich – im Gegensatz zum Pictoralismus – nicht aus Emotionen und Impressionen speisen. Bekannte Vertreter der Straight Photography sind neben Paul Strand auch der Amerikaner Edward Weston und der deutsche Fotograf Albert Renger-Patzsch.
Wirklichkeitsabbild und politisches Engagement: Dokumentarfotografie
Aus den Gestaltungsmitteln der Straight Photography entwickelt sich die sog. "Dokumentarfotografie", die ihre Blütezeit zwischen 1920 und 1950 hat und sich der Abbildung der zeitgenössischen Wirklichkeit verschrieben hat. Die Dokumentarfotografie versteht die fotografische Aufnahme als ein authentisches Zeitdokument und strebt danach, die vorfindliche Welt ohne Manipulation oder Inszenierung abzubilden. Beliebtes Motiv insbesondere der frühen Dokumentarfotografie sind daher Straßenszenen, die den Zeitgeist in Metropolen wie Paris, Berlin oder London festhalten. Das sozialkritische Moment der Dokumentarfotografie zeigt sich u.a. in den Arbeiten des dänischen Fotografen Jacob August Riis, welcher die Armut und tagtägliche Brutalität in den Slums von New York City fotodokumentarisch abbildet.
Das politische Engagement der Dokumentarfotografie zeigt sich auch durch ihren Einsatz in Kriegs- und Krisengebieten während des Zweiten Weltkriegs: Die Aufnahmen der amerikanischen Fotografin Margret Bourke-White aus dem Konzentrationslager in Buchenwald gehen um die Welt. Gegenläufig zur politisch engagierten Dokumentarfotografie entwickelt sich während der 1920er Jahre auch der Zweig der Pressefotografie, die sich auf ungewöhnliche, Aufsehen erregende Bilder spezialisiert: Der Pressefotograf wird zum "Sensationssucher", der mit den Mitteln der Straight Photography (direkte Beleuchtung, Detailgenauigkeit, Frontalaufnahmen) insbesondere Gewaltverbrechen und Brandkatastrophen – und damit die Schattenseiten der florierenden Metropolen – fotografisch festhält.
Kreativität und Exklusivität: Werbefotografie
Als jüngste Stilrichtung der Fotografie hat sich in den 1950er Jahren das Fotografieren für werbende Zwecke entwickelt: Die Werbefotografen arbeiten mit Methoden der Bauhaus-Schule und setzen mittels extremer Perspektiven, harter Schatten und bewusst eingesetzter Schärfe oder Unschärfe entsprechende Produkte in Szene. Anders als jene Stilrichtungen, die von kunstästhetischem Anspruch getragen sind, ist die Werbefotografie Teil des kapitalistischen Wettbewerbs und somit stets darauf ausgerichtet, Aufsehen zu erregen und Meinungen zu bilden. Aus diesem Grund ist hier ein besonders hohes Maß an Ideenreichtum, perfekter technischer Umsetzung und Individualität gefragt.
Lange Belichtungszeiten und unbewegte Objekte: Landschafts- und Portraitfotografie
Da der künstlerischen Freiheit in den Anfängen der Fotografie kreative Grenzen durch die extrem langen Belichtungszeiten von bis zu acht Stunden gesetzt sind, entwickelt sich mit der Landschaftsaufnahme zunächst eine Stilrichtung, bei der unbewegte Objekte abgebildet werden. Diese frühe Stilrichtung ist weniger von ästhetischem, als vielmehr von dokumentarischem Interesse geleitet. So werden die Amerikaner Timothy O'Sullivan und William Henry Jackson durch ihre Aufnahmen der westlichen Territorien bekannt, die im Zuge von Expeditionen und Vermessungsarbeiten in den 1870er entstehen. Die Portraitaufnahme hingegen ist von Anfang an vor allem Ausdrucksform eines neuen bürgerlichen Bewusstseins und gleichsam die "Urgattung" der Daguerreotypie: Die Abgebildeten nehmen die extremen Belichtungszeiten in Kauf, um sich fotografisch in Szene setzen zu lassen – ein Luxus, den sich zuvor nur die Adligen leisten konnten, indem sie ein (gemaltes) Portait in Auftrag gaben.
Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die ästhetische Landschaftsfotografie, die insbesondere durch Detailgenauigkeit, Schärfe und einen sorgfältigen Bildaufbau geprägt ist: Landschaft wird nicht länger abgebildet, sondern "komponiert". Bekannt für sein ab 1941 entwickeltes "Zonen-System" zur Bestimmung von Belichtungs- und Entwicklungszeiten ist Ansel Adams. Der politisch engagierte amerikanische Fotograf nutzt seine Aufnahmen von amerikanischen Nationalparks Mitte des 20. Jahrhunderts unter anderem, um für den Schutz dieser Gebiete zu kämpfen (siehe Bild: Deep Canyon Stream).
Ähnlich verhält es sich mit der Portraitaufnahme der Neuzeit: Gemäß des soziologisch orientierten Zeitgeists geht es der modernen Portraitaufnahme weniger um ästhetizistischen Anspruch, sondern mehr um den individuellen Ausdruck. So arbeitet der deutsche Fotograf Alfred Sander ab 1910 an einem Bilderzkylus von Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Schichten. In den 1940er Jahren entwickelt sich das sog. "Environmental portrait", bei welchem persönliche Gegenstände in die Komposition einbezogen werden, die auf die Ideenwelt der fotografierten Personen verweisen. Bekannt sind auch die Arbeiten der Amerikanerin Diane Arbus, die sich für ihre Aufnahmen am Rande der Gesellschaft bewegt und insbesondere kleinwüchsige Menschen, Transvestiten und Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung fotografiert.