Klassizismus: Sehnsucht nach Antike und italienischer Renaissance
In gewisser Weise ist Kunst immer Nachahmung: Jedes Motiv ist schon einmal gemalt, gezeichnet oder gesprayt worden und jeder Künstler bzw. jede Künstlerin ist einer Vielzahl von Einflüssen ausgesetzt ist, die seine bzw. ihre Arbeit prägen. Um 1800 bildet sich mit dem Klassizismus bzw. der Neoklassik in Kunst und Architektur jedoch eine Bewegung heraus, die in dem Stil vergangener Epochen nicht nur ein inspirierendes Vorbild sieht, sondern diese dezidiert kopiert. Das "Begehren" der klassizistischen Künstler richtet sich dabei vor allem auf die klassische Antike und die Formensprache der italienischen Renaissance.
Franz Xaver Winterhalter - Portrait of Empress Maria Alexandrovna
Der Begriff "Klassizismus" wird häufig mit der Epoche der klassischen Antike verwechselt. Während diese jedoch die Geschichte des antiken Griechenland, des Hellenismus und des darauf folgenden Römischen Reiches bezeichnet, bedeutet "Klassizismus" die Rückwendung (und häufig auch das Kopieren) zu der künstlerisch-architektonischen Formensprache der Antike. Kunstgeschichtlich ist die klassizistische Epoche auf den Zeitraum zwischen 1770 und 1840 datiert und löst den Spätbarock bzw. das Rokoko ab. Die nicht-europäische Bezeichnung für den Klassizismus lautet "Neoklassik", die wiederum nicht mit den neoklassizistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verwechseln ist.
Ab 1840 wird der Klassizismus in der Architektur vom Historismus abgelöst, einer eklektischen Strömung, die auf unterschiedliche architektonische Stile, darunter etwa Romanik, Gotik, Barock und Renaissance, zurückgreift und deren Formensprache nicht nur kopiert, sondern die einzelnen Elemente miteinander kombiniert und steigert. "Geistige" Wegbereiterin des Klassizismus ist die Aufklärung, welche dem gefühlsbetonten Rokoko klare Strukturen und das Primat der Vernunft entgegensetzt.
Klassizistische Architektur: Sehnsucht nach der (griechischen) Antike
Der Klassizismus versteht sich bereits in seiner frühen Phase als künstlerisches Gegenprogramm zu der ausladenden, verschnörkelten Formensprache des (Spät)barock und der ornamentalen, aufwändigen Kunst des Rokoko: Durch die Sehnsucht nach natürlichen und schlichteren Formen wird die Erforschung der antiken Kunst und Architektur vorangetrieben, wie sie beispielsweise die Athener Akropolis aufweist. Da die klassische Architektur sich insbesondere durch einfache Formen sowie klare Linien und Gliederungen auszeichnet, werden diese schlichten, aber eindrucksvollen Grundformen in der Architektur zum Vorbild. Bedeutend für die Wiederentdeckung der klassischen Formensprache ist in Deutschland vor allem der Bibliothekar und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann. Fortan bildet das geometrische Formeninventar von Quadrat, Kreis, Kugel und Pyramide den Grundstein der klassizistischen Architektur.
Beispiele für klassizistische Architektur sind:
das Neue Potsdamer Tor in Berlin,
die St.-Pauli-Kirche in Hamburg und
der Triumphbogen in Paris sowie
die Gloriette in Schönbrunn (Wien).
Ein bekannter klassizistischer Architekt aus Deutschland ist Karl Friedrich Schinkel, der u.a. den Zentralbau der Nikolaikirche in Potsdam entworfen hat.
Klassizistische Malerei: Sehnsucht nach der italienischen Renaissance
Während die klassizistische Architektur ihr Vorbild in den klassischen griechischen Tempelbauten sieht, orientiert sich die Malerei dieser Zeit vornehmlich an der Italienischen Renaissance, die kunstgeschichtlich etwa auf das 15. und 16. Jahrhundert datiert ist. Da allerdings auch die Renaissance sich sowohl die bildnerische Formensprache als auch das Wissen und die philosophischen Vorstellungen der griechischen und römischen Antike zu eigen gemacht hatte, prägen Elemente wie idealisiertes Ebenmaß und Harmonie, sowie idealisierende Darstellung der Natur sowohl die Architektur als auch die klassizistische Malerei. In Letzterer werden schon bald Kriterien und Richtlinien zur Erzeugung jener "richtigen" Kunst festgelegt. Parallel zum Klassizismus entsteht in der Bildenden Kunst (und der Literatur) auch die Bewegung der Romantik, welcher den vernunftzentrierten, an der Aufklärung geschulten Denkstrukturen der klassizistischen Epoche eine Art Gefühlskult entgegensetzt.
Die klassizistischen Maler lösen sich von den allegorisch-symbolischen Motiven der Barockzeit und orientieren sich an klassischen literarischen Szenen der griechischen und römischen Antike. Ziel ist es, die „Fehler“ der realen Erscheinung im künstlerischen Kunstwerk auszugleichen und der Wirklichkeit eine idealisierte Fassung ihrer selbst entgegenzustellen. Zu diesem Zweck verbringen klassizistische Künstler wie François Gérard, Antoine-Jean Gros und Gottlieb Schick viel Zeit mit dem Studium der „alten Meister“ in Museen und Kunsthäusern, um sich mit den Gestaltungsregeln der antiken Kunstwerke vertraut zu machen. Der pastose, extrem intensive Farbauftrag des Barock und Rokoko weicht zunehmend einem flächigen Farbauftrag, welcher der harmonischen Gesamtkomposition entspricht. Ausdruck dieses festen Regelwerks ist auch die „Ecole des Beaux-Arts“ in Paris, die erst während der künstlerischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Einfluss verliert.
Bekannte klassizistische Gemälde sind u.a. das „Bildnis des Johann Jochamin Winckelmann“ der deutschen Künstlerin Angelika Kauffmann aus dem Jahre 1764, der „Schwur der Horatier“ des Historienmalers Jacques-Louis David von 1784 und ein Bildnis der österreichischen Kaiserin Elisabeth (Sissi) aus dem Jahre 1865, gemalt von Franz Xaver Winterhalter (Beispielgemälde siehe oben).