Kubismus: Alle Perspektiven auf einen Blick
"Alles in der Kunst bildet sich aus Kugel, Kegel und Zylinder." Dieser Ausspruch Paul Cézannes beschreibt das Grundprinzip der (aus heutiger Sicht) revolutionärsten Neuerung in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts: des Kubismus (franz. 'cube' = Würfel, Kubus). Die Stilrichtung entsteht um 1907 in Frankreich, wo sie den Fauvismus ablöst, und führt das Prinzip der künstlerischen Abstraktion, das durch die französischen Post- und Neoimpressionisten begründet wurde, zu einem neuen Höhepunkt: Anstatt durch perspektivische Verfremdung oder unnatürliche Farbgebung wird der Gegenstand im Kubismus mathematisch analysiert und in seine geometrischen Formen zergliedert.
Im Allgemeinen unterscheidet man in dieser Stilrichtung eine frühe, eine analytische und eine synthetische Phase. Der Einfluss des Kubismus auf die Klassische Moderne ist kaum zu überschätzen: Obgleich es niemals, wie etwa im Futurismus oder dem Fauvismus, ein "Manifest" bzw. theoretische Niederschriften gegeben hat, leitet der Kubismus in der Bildenden Kunst eine neue Denkordnung ein, die in der Folge sogar auf die Bildhauerei, die Architektur und die Plastik übergeht. Zu den wichtigsten Vertretern zählen neben Pablo Picasso auch Robert Delaunay und Georges Braque. Obgleich sich die Bewegung bis in die 1920er Jahre fortsetzt, treten mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 bereits erste Zersetzungserscheinungen ein.
Frühkubismus ab 1907: Picasso und Braque
History Stack - Pablo Picasso - Les Demoiselles d'Avignon – pixabay.com
Als erstes „kubistisches“ Bild der Kunstgeschichte gelten die „Les Demoiselles d’Avignon“ (1907) des französischen Malers Pablo Picasso: Hier zeigen sich fünf Prostituierte frontal einem imaginären Betrachter, während sie durch die spezifisch perspektivische Darstellung jedoch zugleich selbst eine Art Betrachter-Position einnehmen. Picassos Bild zeigt mit der beginnenden Zersplitterung der Frauenkörper in kubenähnliche Formen und der Reduzierung der Farbpalette auf gebrochene Töne wie Braun, Grau und Blau bereits die „typischen“ Merkmale des Kubismus. Zeitgleich mit Picasso arbeitet um 1907 auch Georges Braque an ersten Entwürfen, in denen Gegenstand, Farbe und Raum auf ihre jeweiligen Grundelemente zurückgeführt werden. In der Forschung wird häufig darüber diskutiert, ob beide Künstler unabhängig voneinander zur kubistischen Methode fanden oder ob Braque von Picasso inspiriert wurde.
Analytischer Kubismus (1910-1912): Vom Konkreten zum Abstrakten
Der Analytische Kubismus entwickelt die geometrische Aufsplitterung des Körpers weiter, indem er den Fokus noch deutlicher auf die Form legt und das Kolorit stärker reduziert, während reinfarbige (häufig schwarze oder weiße) Linien zur motivischen Begrenzung eingesetzt werden. Anstatt das Abgebildete jedoch „nur“ in seine Grundelemente zu zerlegen, strebt der Analytische Kubismus danach, diesen Zerlegungsprozess sichtbar zu machen und die unterschiedlichen Perspektiven frontal in einer Ansicht miteinander zu vereinen. Das Prinzip der 'Simultaneität' ist geboren. So werden Ansichten aus unterschiedlichen Sichtwinkeln zeitgleich dargestellt, wodurch sich der konkrete Gegenstand auflöst und durch einander durchdringende Einzelformen gleichsam neu konstruiert. Im Analytischen Kubismus liegt das Hauptaugenmerk auf Alltagsgegenständen und -situationen. Beispielhaft steht hier Georges Braques Bild „Krug mit Violine“ von 1910.
Auch Picassos Materialcollagen zählen zum Analytischen Kubismus: Während die „Zersplitterung“ des Gegenstandes in der Malerei allein durch Form und Perspektive erreicht wird, nutzt Picasso Materialien wie Sand, Holz und verschiedene andere Textilien, um Simultaneität durch plastische Effekte zu erzeugen. Seine diesbezüglichen Arbeiten sind auch wegweisend für die sog. „Kubistische Plastik“, welches das Prinzip der Simultaneität auf dreidimensionale Arbeiten überträgt. Wichtige Vertreter sind hier auch der amerikanische Bildhauer Alexander Archipenko und der deutsche Künstler Rudolf Belling.
Synthetischer Kubismus ab 1912: Vom Abstrakten zum Konkreten
HEN-Magonza - Pablo Picasso, Bildnis Fernande Olivie – pixabay.com
Ab 1912 löst der Kubismus sich vollständig vom konkreten Gegenstand und arbeitet nur noch mit geometrischen Einzelformen, die synthetisch, das heißt ohne Vorlage eines Motivs, zu „neuen“ Objekten zusammengefügt werden. Während der Analytische Kubismus also konkrete Gegenstände in ihre Einzelformen zerlegt, existieren im Synthetischen Kubismus nur noch die geometrischen Formen, welche frei zu neuen Kreationen kombiniert werden, die teilweise auch fließend ineinander übergehen. Insgesamt ist der Kubismus in dieser letzten Phase wieder deutlich „bunter“, indem mit einander überlagernden Farbflächen gearbeitet wird, die durch starke Konturen voneinander abgesetzt sind. Auch die Verwendung kräftig reiner Farben ist ein beliebtes Stilmittel des synthetischen Kubismus.
Neben Braque und Picasso, dessen „Bildnis Fernande Olivier“ (1909) zu den bekanntesten synthetischen Kunstwerken zählt, ist der spanische Maler Juan Gris einer der wichtigsten Vertreter dieser Stilrichtung. Gris sind auch die einzigen theoretischen Schriften zu dem Thema zu verdanken, welche sich jedoch ausschließlich auf diese letzte Phase des Kubismus beziehen. Zu den bekanntesten Werken Gris` zählen das „Portrait von Pablo Picasso“ (1912) und der „Harlekin mit Gitarre“ aus dem Jahre 1919.