Minoische Kunst aus Kreta: Meister der Wandmalerei
Als ein gewaltiges Erdbeben um 1700 vor Christus auf Kreta die alten Paläste einer der rätselhaftesten frühen Kulturen der Welt zerstört, macht es zugleich den Weg frei für die Minoische Hochkultur, während derer sich die minoische Freskomalerei zur Meisterschaft entwickelt. Die Minoer, deren Name auf den mythischen Despoten Minos zurückgeht, bauen die Paläste wieder auf – und das prunkvoller als jemals zuvor. Während der darauf folgenden "Neupalastzeit" entstehen Kunstwerke, die bis heute ihresgleichen suchen.
Minoische Kunst und Kultur
Die Minoische Kultur existiert ca. seit dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend und wird kunsthistorisch in die Vor-, die Alt-, die Jung- und die Nach-Palastzeit eingeteilt. Obgleich die Minoer in der Vorpalastzeit, welche in die Bronzezeit fällt, noch weitestgehend im Schatten der Ägypter und Mesopotamier stehen, sind schon für diesen Zeitraum wachsende künstlerische Fertigungsweisen belegt. Verschiedene Funde kunstvoller Keramik und Goldschmucks als Grabbeigaben verraten für diesen Zeitraum deutlichen ägyptischen, anatolischen und mesopotamischen Einfluss.
In der Älteren Palastzeit, die etwa um 1900 v. Chr. beginnt, erlebt die minoische Kultur ihre erste Blütephase durch die merkantile Vormachtstellung im östlichen Mittelmeer und die guten Handelsbeziehungen zu Ägypten. In diese Zeit fallen der sog. "Kamaresstil", benannt nach Keramik-Funden in der Kamaresgrotte im Ida-Gebirge. Die Ältere Palastzeit verdankt ihren Namen den mehrstöckigen Palastanlagen von Malia, Festos und Knossos, welche mit weitläufigen Hofanlagen und Wasserleitsystemen ausgestattet waren. Heute geht man davon aus, dass die Palastanlagen die religiösen und ökonomischen Zentren dieser frühen hochentwickelten Kultur waren.
Als die Paläste um 1700 durch ein Erdbeben zerstört werden, beginnt mit ihrem Wiederaufbau die "Jüngere Palastzeit" oder "Neupalastzeit", in welcher die prunkvollen Anlagen endgültig zu den wichtigsten Wirtschafts- und Kultzentren avancieren. Zu den wiedererrichteten Palästen in Knossos, Malia und Festos kommen noch Anlagen in Archanes, Kydonia und nahe der Küste Zakros hinzu. Die Handelsbeziehungen werden in dieser Zeit bis nach Italien und den vorderen Orient ausgedehnt, was sich u.a. als bedeutsamer Einfluss in den Handwerkskünsten manifestiert. Die Jüngere Palastzeit endet abrupt um 1450 v. Chr., als eine Feuerkatastrophe den Großteil der befestigten Städte und Paläste zerstört.
In der Forschung herrscht Uneinigkeit darüber, ob das Ende dieser Epoche durch den Ausbruch des Vulkans von Thera besiegelt wurde oder ob auch andere - möglicherweise kriegerisch-politische Aspekte - eine Rolle gespielt haben. Tatsache ist, dass auch die "Nachpalastzeit" nur noch wenige Jahrhunderte bestand und um 1100 v. Chr. durch die (vom griechischen Festland nach Kreta gelangten) Mykener beendet wurde, die den Palast von Knossos als Herrschersitz einnahmen.
Die Neupalastzeit: Wiege der Minoischen Kunst
Nachdem die Paläste der Älteren Zeit um 1700 prunkvoller als jemals zuvor wieder aufgebaut worden waren, wurden sie zum Sitz der bedeutendsten Künstler jener Epoche, mit denen die Freskomalerei ihren qualitativen Höhepunkt erreichte. Hier entwickelt sich die "Al-fresco-Technik", die noch viele Jahrhunderte lang überall sonst unbekannt war: Bei dieser Technik wurden die farbigen Motive direkt auf den noch feuchten, mit einer Mischung aus Putz, Kalk und Tierhaaren verputzten Untergrund gegeben, damit sich Farbe und Malgrund auf einzigartige Weise miteinander verbinden konnten.
Die Farben wurden hergestellt, indem die Künstler Farbpigmente und Mineralien feuchtem Gips beimischten. Sobald der erste Nass-in-Nass-Auftrag an der Wand getrocknet war, wurden weitere Schichten aufgetragen und die Details mithilfe von feinen Bürsten ausgearbeitet. Am Ende dieses Prozesses stand eine Lasur aus Ei-Tempera (eine Mischung aus Eigelb, Leinöl und Wasser) und ein abschließendes Polieren. Berühmte Beispiele für diese Art des Wandfreskos sind das Delfin-Fresko und die Stierspringer-Szenen aus den Ruinen des Palastes von Knossos. Die dargestellten Szenen sind in der Regel zweidimensional und ohne jede Tiefenwirkung.
Die Paläste der Neupalastzeit weisen unterschiedlichste Arten von Fresken auf, welche jeweils auf die Beschaffenheit der Räumlichkeiten abgestimmt sind, in denen sie angebracht sind. So wurden Wandgemälde wie beispielsweise Landschaften eher zentral angeordnet und hielten zum Boden, zu den Fenstern und Türen einen immer gleichen Abstand ein. Die freigelassenen unteren Bereiche über dem Boden wurden ebenfalls verziert – entweder durch Marmorfliesen oder durch kleinere Wandgemälde in Marmor-Optik. Während die oberen Bereiche unterhalb der Decke mit schmalen Fresken versehen wurden, zierten die Decken spiralförmige Muster, Rosetten und Girlanden-Bordüren. Neben den Räumlichkeiten wurden auch Altäre und Balustraden mit Fresken verziert.
Die Fresken der minoischen Künstler sind erstaunlicherweise gänzlich frei von Huldigungen an jeweilige Herrscher oder andere politische Aussagen: Die Szenen zeigen häufig kultische Rituale, religiöse Symbole und Stätten, sowie Wettkämpfe wie etwa das Stierspringen. Neben den religiösen Themen finden sich auch viele Landschaftsdarstellungen, da die minoische Kultur sehr naturverbunden war. So zeigen die Fresken Flora und Fauna der griechischen Insel mit einem Schwerpunkt auf der Darstellung der Meereslebewesen, welcher in der kunstgeschichtlichen Forschung als sog. "Meeresstil" bekannt geworden ist. Doch auch der Alltag der minoischen Kultur, wie beispielsweise Hinweise auf Kleidung und Körper- bzw. Schönheitsideale, finden sich auf den Fresken der Neupalastzeit.