Akademischer Kunststil – strenge Regeln und ästhetizistische Kunst
Es ist die letzte Bastion der mimetischen Kunst: Lange bevor die Impressionisten um Monet und Renoir die Wirklichkeit in Form und Farbe auflösen und in französischen Ateliers der Schlachtruf „L'art pour L'art“ ertönt, gilt nur das als Kunst, was einem strengen Regelwerk entspricht. Die Regelhoheit liegt bei den europäischen Kunstakademien dieser Zeit, die vom 17. bis ins 19. Jahrhundert eine Kunstrichtung prägen, die als Akademischer Kunststil bzw. Akademismus in die Kunstgeschichte eingegangen ist.
Nach unserem heutigen Verständnis lebt die Kunst in erster Line von der Freiheit ihrer Form. An Kunsthochschulen und -universitäten werden zwar unterschiedliche Kunstrichtungen gelehrt, doch die Ausbildung fungiert mehr als grundlegendes Handwerkszeug des angehenden Künstlers, der früher oder später jedoch zu einem eigenen Stil findet. So machen bereits seit dem 20. Jahrhundert vor allem jene Kunstwerke von sich reden, die sich von anderen abheben – sei es aufgrund ihres Motivs, ihrer Materialien oder der angewandten Technik. Heute gilt also das als 'schön', was durch Neuartigkeit und einen gewissen revolutionären Charakter polarisiert.
Vor dem Beginn der künstlerischen Moderne ist Kunst (weder in der Literatur noch in der Bildhauer- oder Malerei) jedoch keine Frage des persönlichen Ausdrucks und des individuellen Genies, sondern einzig und allein eine Frage strenger formaler und ästhetischer Regeln.
Die Hüter des Regelwerks: Die Kunstakademien Europas
Die Ursprünge der Akademischen Kunst liegen in Italien: Mitte des 16. Jahrhunderts entsteht in Florenz mit der „Accademia delle Artidel Disegno“ unter der Schirmherrschaft der Medici-Familie der erste Vorläufer unserer heutigen Kunsthochschulen. Das Modell dieser ersten Akademie für Malerei findet landesweit Nachahmung und setzt sich schnell auch im restlichen Europa durch. Zunächst haben nur die künstlerisch begabten Sprösslinge adliger Familien Zugang zu jenen Schulen, doch die Ausbildung bleibt nicht lange ein reines Privileg des Adels.
Die planmäßige und strenge Ausbildung junger Künstler hat damals vor allem das Ziel, die Position von Künstlern in der Gesellschaft aufzuwerten und sie somit gleichberechtigt neben andere akademische Berufsgruppen zu stellen. Erreicht wird dies, indem die Künste dank der Ausbildung gleichsam zu einer Wissenschaft erhoben werden: Die Akademien lehren Malerei und Bildhauerei nach strengen klassizistischen Regeln, die sich am Stil der klassischen griechischen und römischen Kunst orientieren. Oberstes Gebot ist hier die sogenannte „Mimesis“, also die Nachahmung der Wirklichkeit.
Dieses Postulat, das auf die „Poetik“ des griechischen Philosophen Aristoteles zurückgeht, bedeutet in der Bildenden Kunst die möglichst wirklichkeitsgetreue, d.h. weitestgehend realistische Wiedergabe des jeweiligen Motivs. Im Klassizismus, der sich um 1770 im deutschsprachigen Raum entwickelt und sich zu großen Teilen mit dem akademischen Kunststil verbindet, bedeutet „Mimesis“ zugleich auch die formale und technische Nachahmung der klassischen Kunst. Die Kunstakademien entwickeln sich innerhalb kürzester Zeit zur obersten Instanz in Sachen Kunstvermittlung und -tradierung und prägen so rund drei Jahrhunderte lang die Vorstellung dessen, was 'Schönheit' bedeutet.
'Schön' ist, was ästhetisch schön ist: Der Ästhetizismus der Akademischen Kunst
Während man heute speziell bei der Betrachtung zeitgenössischer Kunst durchaus darüber streiten kann, was schön ist und was nicht, herrschen im Akademismus nicht nur klare Vorstellungen, sondern auch strenge Vorschriften in Sachen künstlerischer Schönheit. Lange, bevor so etwas wie eine 'Ästhetik des Hässlichen' auch nur denkbar wird, gilt als 'schön' also nur das, was ästhetisch ansprechend ist. Konkret bedeutet dies die Harmonie der Form und der Gesamtkomposition: Eine Skulptur oder ein Gemälde gilt nur dann als schön, wenn es auf den Betrachter einen harmonischen und ausgeglichenen Eindruck macht.
Zu den technischen Regeln der Akademischen Kunst zählt u.a. die perfekte Umsetzung der Wirklichkeit in Farbe, Licht und Schatten, was zu Arbeiten von nahezu fotorealistischer Perfektion führt. Ebenfalls beliebt sind hier Gemälde, denen man durch ein spezielles Finish nicht mehr ansieht, dass es sich um Malerei handelt. Als im Jahre 1797 die „École des Beaux-Arts“ in Frankreich gegründet wird, die einen starken neoklassizistischen Einfluss hat, vermischen sich die Ideale des Akademismus nach und nach mit den klassizistischen Forderungen. Eine Synthese aus beiden sind beispielsweise die Arbeiten des österreichischen Malers Hans Makart.
Wirklichkeitsferne und Eklektizismus: Die Abwendung vom Akademismus
Neben den formalen und technischen Vorschriften zeichnet sich der Akademische Kunststil durch klare motivische Vorgaben aus, da nur solche Themen als „nachahmenswert“ empfunden werden, die bereits eine gewisse motivgeschichtliche Tradition haben. So entsteht mit der Zeit ein strenger Kanon von Motiven, die hauptsächlich literarisch, mythologisch und historisch motiviert sind. Alltägliches, Profanes und alles, was nicht als ästhetisch schön gilt (so zum Beispiel die Darstellung von Armut und Leid in der einfachen Bevölkerung) zählen nicht zum Repertoire des Akademischen Kunststils. Die Mimesis beschränkt sich folglich auf die rein technische Wiedergabe und mündet nicht – wie etwa im Realismus ab Mitte des 19. Jahrhunderts – in einer kritischen Auseinandersetzung mit der sozialen Wirklichkeit.
Jener akademische Idealismus ist auch der Grund dafür, dass der Kunststil ab ca. 1900 mit dem Aufkommen vornehmlich subjektiv geprägter Kunstformen wie Im- und Expressionismus zunehmend kritisch gesehen wird. Erst in den 1990er Jahren werden bestimmte Künstler wie etwa Alexandre Cabanel (Siehe Bild: „Die Geburt der Venus“, 1863) oder Anselm Feuerbach („Medea“, 1870) wiederentdeckt. Seitdem werden die Künstler des Akademismus nicht mehr vorrangig für ihren Eklektizismus verachtet, sondern erneut für ihre außerordentliche Kunstfertigkeit geschätzt.