Kunstrichtung "Art Brut": Geschichte & Hintergrundwissen
Kunst außerhalb des Kunstsystems: In den 1940er Jahren prägt der französische Künstler Jean Dubuffet den Begriff der "Art Brut" (dt. unverbildete, rohe Kunst) für seine private Kunstsammlung, deren Exponate hauptsächlich von Laien, Kindern und Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Disposition stammen. Die Bezeichnung, die Dubuffet seiner Zeit ausschließlich auf seine eigene Sammlung anwendet, wird schon bald zum Sammelbegriff für Kunst, die autodidaktisch und außerhalb des kulturellen Mainstreams entsteht. Verbindendes Element ist eine unverbildete, naive und antiakademische Ästhetik.
Dass der Künstler sich gegen das System richtet, gehört wie selbstverständlich zu dem Bild, das wir von ihm haben: Künstler sind diejenigen, die rebellieren und die sich außerhalb der Gesellschaft positionieren, um sie kritisch portraitieren zu können. Kunst, die außerhalb des Systems entsteht, ist im Grunde also nichts Besonderes. Im Falle der „Art Brut“ besteht die Besonderheit jedoch gerade darin, dass die Kunstschaffenden gar nicht wissen, dass sie nicht im System sind – weil dieses in ihrer Welt keine Rolle spielt.
Begriffsursprung: Die Collection de l'art brut in Lausanne
Die Privatsammlung des Malers Jean Dubuffet, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entsteht, spiegelt dessen kunsttheoretische Ansichten: Dubuffet zufolge ist autodidaktische Kunst ungleich höher zu bewerten als akademisch konzipierte Exponate, da Erstere keiner vorgeschriebenen Ästhetik folgen, sondern aus einem inneren Ausdrucksbedürfnis heraus entstehen, also „unverbildet“ seien. Dieser Vorstellung entspricht auch der Begriff, den der Künstler 1945 prägt und den er zeitlebens als sein geistiges Eigentum betrachtet: „Art Brut“ bedeutet in etwa „unverfälschte bzw. unvermittelte oder rohe Kunst“. Die französische Doppelbedeutung von „brut = edel-herb“ (vgl. „Champagne Brut“) erklärt sich aus der Weinliebe des Künstlers, der zugleich im Weinhandel tätig ist. Die entsprechenden Exponate erhält Dubuffet aus nahe gelegenen psychiatrischen Anstalten.
Im Jahre 1947 entsteht unter der Schirmherrschaft des französischen Künstlers und des Surrealisten André Breton, dessen kunsttheoretischen Auffassungen die Philosophie der „Art Brut“ sehr entgegenkommt, in Paris die Compagnie de l'Art brut. Hier wird erstmals der Versuch unternommen, jene alternative Kunst nicht nur zu sammeln, sondern auch (sofern dies möglich ist) zu dokumentieren und zu studieren. Zwei Jahre später folgt die erste große Ausstellung der Compagnie unter dem Titel L' art brut préferé aux arts culturels, bei der mehr als 200 Werke von insgesamt 63 Künstlerinnen und Künstlern präsentiert werden. Dubuffet definiert die Exponate als alternative und subversive Kunstform und besteht darauf, als geistiger Vater dieser Stilbezeichnung einzig und allein das Recht zu haben, Kunstwerken den Status der „Art Brut“ zu verleihen oder abzuerkennen.
Da es jedoch wesentliches Charakteristikum dieser Sammlung ist, dass sie nicht durch akademische Parameter zu definieren ist, ist die Abgrenzung zu anderen künstlerischen Ausdrucksformen kaum aufrecht zu erhalten. So setzt sich die Bezeichnung „Art Brut“ schon sehr bald auch international für andere Kunstformen außerhalb der gesellschaftlichen Norm durch und vermischt sich allmählich mit Begriffen wie „Naive Kunst“ oder „Bildnerei der Geisteskranken“. Im anglo-amerikanischen Raum sind statt „Art Brut“ die Bezeichnungen „Outsider Art“, „Visionary Art“ und „Self-taught Art“ gebräuchlich.
„Art Brut“: Geisteskrankheit als kreative Triebfeder
Die anglo-amerikanische Sammelbezeichnung „Outsider Art“ zeugt von einem deutlich weiter gefassten Kunstbegriff als Dubuffets Prägung „Art Brut“: Während die „Outsider Art“ generell Kunst bezeichnet, die gleichsam außerhalb der Gesellschaft entsteht (so beispielsweise auch Kunst verurteilter Straftäter und sogenannter „Underdogs“), meint „Art Brut“ zunächst explizit die Kunst von Menschen, die unter (schweren) geistigen Behinderungen oder psychischen Dispositionen leiden. Diese „Randgruppe“ erfüllt auch eine weitere Bedingung der „Art Brut“. Dabei handelt es sich um die Isolation des Künstlers von der gängigen Vorstellung dessen, was „Kunst“ sein soll: Der Art-Brut-Künstler à la Dubuffet ist kein Angehöriger normaler Künstlerkreise, schafft im Verborgenen und ist über die gegenwärtigen kulturellen Entwicklungen nicht informiert. Diese Bedingungen machen seine Kunst weitestgehend autark und unvorhersehbar.
cometstarmoon: La Collection de l'Art Brut: Adolf Wölfli (Quelle: flickr.com)
Die, beispielsweise in Psychiatrien und geschlossenen Einrichtungen entstandenen, Bilder, Skulpturen und Collagen als Kunst zu betrachten und wertzuschätzen, ist Mitte des 20. Jahrhunderts ein vollkommen neuer Ansatz, der in der Folge wesentlich zur generellen Anerkennung und Aufwertung marginalisierter Kunstformen beiträgt.
Allerdings macht Dubuffet in seinen kunsttheoretischen Texten auch deutlich, dass die sogenannte „Geisteskrankheit“ den Art-Brut-Künstler zwar in gewisser Weise zu außergewöhnlichen künstlerischen Leistungen befähige, es jedoch nicht die psychische Disposition an sich sei, die aus dem Menschen den Künstler mache:
„Geisteskrankheit entlastet den Menschen, gibt ihm Flügel und befördert offenbar seine seherischen Gaben[.] […] Wir sind der Ansicht, dass die Wirkung der Kunst auf uns in allen Fällen die gleiche ist, und dass es ebenso wenig eine Kunst der Geisteskranken gibt, wie eine Kunst der Magenkranken oder der Kniekranken.“1
Die Spielarten der „Art Brut“: Von Alltagsgegenständen bis zum Horror Vacui
Die Ausdrucksformen der „Art Brut“ sind vielfältig, zeichnen sich jedoch in erster Linie durch betont natürliche und einfache Stilmittel und Materialien aus. In diesem Zusammenhang wird die Kunstform auch zur Inspirationsquelle für Surrealisten und Expressionisten, die in dem „kreativen Wahnsinn“ eine Befreiung von dem strengen Formalismus des Kunstbetriebes und den gesellschaftlichen Beschränkungen sehen. Die Art-Brut-Künstler sind durch ihre psychische Disposition gleichsam zu dem befähigt, was sowohl Expressionisten als auch Surrealisten als höchstes Ziel anerkennen: Zum freien, ungehinderten „Fließen lassen“ der kreativen Energie.
Die Werke der „Art Brut“ entstehen beispielsweise durch die freie und zufällige Kombination von Alltagsgegenständen, Glas- und Tonscherben, Abfall und natürlichen Materialien wie Holz oder Muscheln, die zu Materialbildern, Skulpturen oder Verzierungen aller Art verarbeitet werden. Ein berühmtes Beispiel ist das Gebilde „Weltmaschine“ des österreichischen Landwirts Franz Gsellmann. Im zeichnerischen Bereich zeichnet die Kunstform sich durch den sogenannten „Horror Vacui“, das ist die Angst vor dem leeren (d.h. ungenutzten) Raum aus: In Gemälden der „Art Brut“ ist die Zeichenfläche in der Regel vollständig ausgefüllt, sodass die Formen lediglich durch unterschiedliche Hell-Dunkel-Werte zu erkennen sind.
Ein bekannter Art-Brut-Vertreter ist beispielsweise Adolf Wölfli (siehe Bild: La Collection de l'Art Brut), der während der 35 Jahre in der Schweizer Nervenheilanstalt Waldau nicht nur malt, sondern auch ganze Bücher veröffentlicht; im Jahre 1921 widmet sein Psychater Walter Morgenthaler Wölfli die medizinische Fallstudie „Ein Geisteskranker als Künstler“. Zu weiteren bekannten Künstler zählen Karl Brendel, Karin Birner, Helga Nagel, Jutta Steinbeiß und Sonja Plank. Der auffallend große Anteil weiblicher Künstlerinnen erklärt sich aus der Tatsache, dass während der 1940er, 50er und 60er Jahre überdurchschnittlich viele Frauen mit der Diagnose „Hysterie“ in Nervenheilanstalten eingeliefert und häufig erst Jahre später wieder entlassen wurden. In den meisten Fällen litten diese Frauen lediglich an hormonell bedingten schweren Stimmungsschwankungen – doch mit der Erforschung des weiblichen Hormonhaushaltes wurde erst viele Jahre später begonnen.
1 Schneider, Birgit: Narrative Kunsttherapie. Identitätsarbeit durch Bild-Geschichten. Ein neuer Weg in die Psychotherapie, Bielefeld 2009. S. 269f.